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Drei Arten Wahrheit

Mehrfach begegnete mir in der letzten Zeit diese oder ähnliche Aussagen, z.B. wenn jemand seine Kinder trotz StiKo-Empfehlung (noch nicht gegen Corona impfen ließ: „Ich verstehe nicht, warum ich eine kerngesunde Jugendliche impfen lassen soll.“
Sprachlos bleibe ich zunächst zurück, und frage mich, wie eine akademisch gebildete Person zu so einer Aussage kommen kann?
Ich versuche im folgenden Text, die dahinterliegenden Denkstrukturen zu ergründen und entschlüsseln.

Die Diskussion, ob eine Corona-Impfung sinnvoll ist, ob eine Impfpflicht eingeführt werden sollte, macht den Corona-Brennglaseffekt wieder deutlich, hier wird eine grundlegende Frage unserer politischen und gesellschaftlichen Kultur sichtbar.

„Es gibt auch Menschen (Wissenschaftler, Ärzte, …), die das anders sehen!“

In Talkshows, in der öffentlichen Wahrnehmung, bekommen diese Raum, in bestimmten Bereichen insbesondere des Internets und der sozialen Netzwerke können sie sogar die gesamte Diskussion dominieren.

Muss Meinungspluralismus immer abgebildet werden?
Müssen Meinungen immer gemäß ihrem Proporz abgebildet werden, in statistisch nachvollziehbaren Anteilen?
Muss man manchmal abweichende Meinungen „unterdrücken“, vom öffentlichen Diskurs bewusst und begründet ausschließen?
Gibt es Regeln dafür, kann es vernünftige Regeln geben, wann Pluralismus schädlich ist und aus grundlegenden Erwägungen nicht abgebildet werden sollte?

Die Idee einer ausgewogenen Darstellung aller Meinungsfacetten, auf dass der mündige Bürger sich ein eigenes Bild machen kann und zu einem begründeten und verantwortbaren Urteil kommen möge, ist in der politischen Auseinandersetzung üblich und vermutlich aus dieser erwachsen. Hierbei bekommen auch kleine Gruppen, Außenseitermeinungen, einen überproportionalen Anteil, damit sie überhaupt sichtbar werden. Große moralische Fragen, aber auch viele wirtschaftliche Zusammenhänge oder außenpolitische Entscheidungen und Haltungen sind so komplex, dass hier eine entsprechende Meinungsvielfalt unbedingt dargestellt werden muss. In aller Komplexität, mit allen verfügbaren Fakten, unbedingt auch mit einer sauberen Differenzierung zwischen utilitaristischen und deontologischen Argumenten. Zu meinem Bedauern kommen zweitere im öffentlichen Diskurs nur selten vor.

Das andere Extrem sind mathematische und logische Wahrheiten: Es kommt niemandem – ok, fast niemandem – in den Sinn, über den Wert der Kreiszahl Pi zu diskutieren. Pi-Skeptiker würden höchstens zum allgemeinen Amusement eine Plattform erhalten.

Was aber leider viele Menschen nicht wissen oder ignorieren ist das Wesen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Fatal dürfte sich der Begriff vom „Natur-Gesetz“ für eine korrekte Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgewirkt haben und noch immer auswirken. Ein Gesetz gilt zeit- und ortsabhängig, man muss sich dann und dort daran halten, kann es aber auch übertreten. Gesetze könne verändert, Verstöße gegen Gesetze geahndet werden. Gesetze fallen somit in den ersten Bereich der Wahrheiten, der verhandelbaren. Diese sind zwar nicht wider die Vernunft sinnvoll denkbar, haben aber immer eine Entscheidungsbandbreite und meist auch eine zeitliche Gebundenheit und damit auch Notwendigkeit der Anpassung und Überarbeitung.

In den Naturwissenschaften hingegen werden Erkenntnisse aus der Anschauung gewonnen. Naturwissenschaften sind Erfahrungswissenschaften, empirische Wissenschaften. Der Beweis ist der Naturwissenschaft wesensfremd! Karl R. Popper hat in seinem Hauptwerk „Logik der Forschung“ 1934/35 [1] gezeigt, dass es in der Naturwissenschaft keine Beweise geben kann. An ihre Stelle tritt die Falsifikation. Die Erkenntnisgewinnung läuft dabei nach einem bestimmten Muster ab:

  1. Aus der Anschauung eines Phänomens wird eine Hypothese zu dessen Erklärung entwickelt.
  2. Es werden Experimente geplant, diese Hypothese zu widerlegen.
  3. Gelingt die Widerlegung, so ist die Hypothese falsch (Falsifikation) und muss entsprechend modifiziert werden.
  4. Gelingt die Widerlegung aber nicht, so ist damit keineswegs die Hypothese bewiesen sondern lediglich gestützt. Es muss nun ein neues, anderes Experiment geplant werden, um die Hypothese zu widerlegen.
  5. Je mehr Widerlegungen nicht gelingen, desto stärker wird die Hypothese, die somit zu einer anerkannten Theorie werden kann.

Immer aber bleibt der Vorbehalt der Widerlegung. Die Widerlegung erfordert dann eine Modifikation der Hypothese, der Theorie. Die Stärke der Hypothese bemisst sich nach der Zahl der Versuche, sie zu widerlegen. Neben großer Zahl müssen auch eine möglichst große Vielzahl von unterschiedlichen Versuchen durchgeführt worden sein. Mit der Zeit wächst die Mächtigkeit einer Hypothese zur Theorie heran. Ein weiteres Wesensmerkmal naturwissenschaftlichen Arbeitens ist die Dokumentation, die eine Wiederholung des Experiments jederzeit und an allen Orten ermöglicht.

So wird niemand ernsthaft die Existenz der Schwerkraft (genauer: Gravitation) bezweifeln, auch wenn diese bis heute nur beschrieben, aber nicht erklärt werden kann. Selbst Peter Licht bezweifelt nur ihre Notwendigkeit, nicht aber ihre Existenz! [2] Aber auch ohne Verständnis für ihre Herkunft lässt sich doch in allen Belangen mit der gängigen Theorie hervorragend arbeiten.

Was nämlich entscheidend ist: Es ist kein Raum vorhanden für „Meinung“!

Hypothesen, Theorien, ganze Theoriegebäude lassen sich nicht durch Meinungen oder Überzeugungen zum Einsturz bringen. Vielmehr bedarf es der fundierten Widerlegung. Diese grundsätzlich vorhandene Möglichkeit ist immanenter, essentieller Bestandteil des wissenschaftstheoretischen Gebäudes der empirischen Wissenschaften.

Somit kann auch nur ein Experte, also eine Person, die über fachliche Expertise, methodische Kenntnisse, experimentelles Geschick und Möglichkeiten, reflexive und reflektierte Distanz verfügt, eine starke Hypothese, eine mächtige Theorie zum Einsturz bringen.

In der Wissenschaftsgeschichte gibt es viele Beispiele, dass dies auch geschah, teilweise durch Einzelgänger, oft Außenseiter. Dies geschah in Fällen, in denen die allgemein anerkannte Theorie durch Modifikationen der Theorie nicht mehr gerettet werden konnte. Thomas S. Kuhn stellt dies sehr unterhaltsam dar. [3] Kuhn prägt dafür den Begriff des Paradigmenwechsels. Ein Paradigma ist die Summe der Überzeugungen einer Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Ein berühmtes Beispiel für einen solchen Paradigmenwechsel ist die Ablösung der Phlogistontheorie durch die Oxidationstheorie. Antoine de Lavoisier hat 1785 die Phlogistontheorie endgültig widerlegt. Diese ging davon aus, dass es eine hypothetische Substanz Phlogiston gebe, die Verbrennungsprozesse unterhält und bei der Verbrennung entweicht. Dies führt zur Massenabnahme bei der Verbrennung., Als man erkannte, dass bei der Verbrennung von z.B. Eisenwolle die Masse zunimmt (weil Sauerstoff an das Eisen gebunden wird und das Produkt Eisenoxid eine höhere Masse hat als das schiere Eisen), wurde ein letzter verzweifelter Versuch zur Rettung der Theorie unternommen. Man postulierte Phlogiston mit negativer Masse. Da muss man erstmal drauf kommen! Lavoisier, der als einer der Begründer der Chemie gilt, da er die Waage in der Chemie als Werkzeug eingeführt hat, stellte dem die heute gültige Oxidationstheorie entgegen.

Aber diese hat er sich nicht einfach überlegt, er war nicht nur der Meinung, dass die Phlogistontheorie falsch sei. Nein, er hat eine Vielzahl von Experimenten durchgeführt, verändert, angepasst und nach langer, intensiver Forschungsarbeit seine Theorie dargelegt und untermauert. Diese basierte zudem auf den Arbeiten anderer Chemiker, z.B. Scheeles. Diese Theorie war so fundiert und gut begründet, dass die grundlegenden Untersuchungen und Experimente nachvollzogen und weiter geplant und durchgeführt werden konnten.

Es gibt also drei Arten der Wahrheit, die sich nicht widerspreche, sondern je nach Anlass, Wissenschaft, Philosophie zum Tragen kommen. „Meinung“ hat in Maßen im politischen wirtschaftlichen, geisteswissenschaftlichen Bezügen ihren Raum. Aber auch eine Meinung muss stets gut begründet sein, auch hier gilt selbstverständlich Expertise. So können sich auch ausgewiesen Experten bei der Zinspolitik widersprechen.

Wird Gier zum Motiv, so können auch fundamentale Grundsätze ganz plötzlich über Bord geworfen werden und nur noch die Psychologie kann das irrationale Verhalten der Menschen erklären, siehe Wirecard oder den Fall von Elisabeth Holmes, die wider jede Vernunft mehr als 700 Mio US-$ Investorengelder einsammeln konnte, weil man ihr einfach glauben wollte, dass sie eine Maschine erfunden habe, die aus einem einzelnen Bluttropfen 200 Krankheiten und Gesundheitswerte herauslesen könne. Hier kommt es zu einer interessanten Vermischung unterschiedlicher Wahrheiten: Selbstverständlich geht es fachlich bei ihrem Geschäftsmodell um Naturwissenschaft. Insofern hätte in den bewährten Verfahren der Peer-Review, der sauberen Experimentierweise und somit Dokumentation, Nachvollziehung etc., leicht herausgefunden werden können, dass diese Maschine gar nicht existiert. Aber der Glaube an das perpetuum mobile ist auch trotz des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik immer noch vorhanden. Hier handelt es sich schlicht um einen irrationalen Glauben, um Meinung. Wirtschaftlich kann es für einen begrenzten Zeitraum sogar vernünftig sein, auf eine solche Blase aufzuspringen, wenn man erkennt, dass es eine Blase ist, die anderen Investoren aber nicht. Moralisch ist dieses Verhalten allerdings nicht tragbar.

In logischen Wissenschaften wie Mathematik, Philosophie und Theologie – ja genau: auch in der Theologie! – hat Meinung keinen Platz. Hier gibt es allerdings meist ein axiomatisches Grundgerüst.

So weiß jeder, dass die Winkelsumme im Dreieck 180° beträgt. Es lässt sich aber problemlos ein Dreieck mit drei rechten Winkeln konstruieren. Man muss nur auf dem Globus vom Nordpol nach Süden gehen, bis man auf den Äquator trifft. Dann im rechten Winkel dem Äquator ein Viertel Erdumfang folgen, im rechten Winkel nach Norden abbiegen und man kommt wieder am Nordpol aus. Das Problem ist, dass man unausgesprochen bei Dreiecken an die Konstruktion in der Ebene denkt und übersieht, dass dies auch auf gekrümmten Flächen möglich ist. Genauso ist das Grundaxiom der Theologie die Existenz Gottes, die sich aus diesem Grund auch nicht innerhalb der Theologie beweisen oder widerlegen lässt.

Für das Anfangsproblem, die Corona-Impfung aber, ist die dritte Wahrheit entscheidend, die der empirischen Wissenschaften.

Natürlich darf man Angst haben, Angst ist ihrem Wesen nach irrational und antivernünftig, aber eben auch real. Im Keller wohnt definitiv kein Monster! [4]

Aber daraus kann und darf man keine unwissenschaftlichen, antiwissenschaftlichen Entscheidungen ableiten. Die Angst gilt es durch die Vernunft zu überwinden. In der Naturwissenschaft ist für Meinungen kein Platz.

Meinungspluralismus ist gut und muss in einer demokratischen Gesellschaft abgebildet werden. Aber in Fällen der empirischen oder logischen Wissenschaft, in denen Meinung gar keinen Raum hat, aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen es keine Meinungen geben kann, ist die Abbildung eines sogenannten Meinungspluralismus auch nicht sinnvoll oder gar notwendig. Vielmehr muss der Öffentlichkeit hier die Unsinnigkeit von Meinung klar gemacht werden. „Hört auf die Wissenschaft!“ heißt es. gemeint ist die Empirie. Diese liefert Fakten, die dann in politische und persönliche Entscheidungen münden müssen. Die Wissenschaft trifft keine Entscheidungen. Sie liefert Fakten. Aber keine Meinungen. Und es ergibt auch keinen Sinn, eine Meinung zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis zu haben. Wissenschaft lässt sich nur mit Wissenschaft widerlegen. Das ist aber gleichzeitig Bestandteil von Wissenschaft.

Mein Fazit:

Es ist schlicht vernünftig, gesunde Kinder impfen zu lassen. Damit sie nicht krank werden. So funktionieren Impfungen. Und es hat in der Menschheitsgeschichte noch nie eine so gigantische Datenmenge zu einem medizinischen Problem in so kurzer Zeit gegeben wie bei der Corona-Impfung. Und vermutlich auch noch nie so eindeutige Daten, dass geringste Gefahr mit maximalem Nutzen einher geht.

Also: Lasst euch impfen und impft eure Kinder!


[1] Karl R. Popper, Logik der Forschung : Gesammelte Werke in deutscher Sprache Bd. 3. Mohr Siebeck (Tübingen 11. Aufl. 2005).

[2] Peter Licht, Lied gegen die Schwerkraft. https://youtu.be/LzXupNAzghA

[3] Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 25 (Frankfurt a.M. 2. Aufl. 1976).

[4] Ich empfehle ein wunderbares Bilderbuch: Thomas Müller, Apfelsaft holen. Lynn liebt es. Und unser Keller ist auf einmal ein Ort von Monstern und Gespenstern. https://wasliestdu.de/thomas-mueller/apfelsaft-holen

5 Gedanken zu „Drei Arten Wahrheit“

  1. Schön auf den Punkt gebracht. „Meinung“, „Hypothese“, „Theorie“. Dazu noch „false balance bias“… Allerdings für so Manchen nicht einfach zu verstehen. Dies Verständnis ist für mich Grundlage und der Start jeder interessanten Diskussion. Bleibe ich so weit am Anfang schon stecken und habe da keine Überdeckung, breche ich inzwischen Diskussionen einfach ab. (Am krassesten hatte ich das mal bei einem Realschulrektor, der Evolution als „nur“ eine Theorie bezeichnete. Allerdings war dann die Schule auch einfach von der Liste zu streichen…). Natürlich erscheint das arrogant, aber um gleich die logische Konsequenz auszuführen, diese Arroganz kann und darf nur der Anfang sein. Die Youtube-Universtäts- Absolventen neigen leider dazu, die „Balance“ nur für sich zu beanspruchen. Da kann man gleich noch mal Popper zitieren: „Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ Impfpflicht für hochgradig ansteckende Krankheiten sind meines Erachtens nach ein Muss. Und nicht nur, weil ich im Haushalt einen Menschen hab, der durch volle Krankenhäuser massiv gefährdet ist.

    1. Lieber Jens,
      danke für deinen Kommentar!
      Wo der Realschulrektor natürlich Recht hatte: die Evolution ist Nur eine Theorie. Allerdings nicht irgendeine, die gleichwertig neben beispielsweise dem Kreationismus steht. sondern DIE Theorie zur Entstehung der Arten. In permanenter Entwicklung, alleine in den letzten 20 Jahren hat sich da ja durch die Möglichkeiten der Gensequenzierung etc. extrem viel getan.
      Insofern ein hervorragendes Beispiel, dass eben nicht mal so eben eine krude Idee zur Theorie im Sinne Poppers, Kuhns oder Feyerabends werden kann. Der Kreationismus ist genauso lustig wie die Posse um das Gesetz zur Quadratur des Kreises aus Indiana https://de.wikipedia.org/wiki/Indiana_Pi_Bill
      Im Religionsunterricht der Oberstufe bespreche ich gerne den Kreationismus als Theorie gleichberechtigt mit dem Pastafarianismus. Es ist beruhigend, dass 15-16jährige an sowas Freude haben 😉

  2. Lieber Martin,
    eine sehr interessante Darstellung, die man auch ReferendarInnen der Naturwissenschaften vorlegen muss.
    Übrigens: Bei all den Diskussionen um dieses Thema wird mir immer deutlicher,
    dass viele unserer Mitbürger seit Jahren bereits den Tod aus ihrem Leben verdrängt haben. Nun plötzlich wird man wieder damit konfrontiert. – das ist nicht einfach!
    Danke dir für diesen Artikel
    Alois

  3. All dies sollte Grundlagenwissen sollte Grundlagenwissen sein. Das Fazit ist dann zwingend.
    Leider muss ich zugeben, dies für mich aus der Schule nicht mitgenommen zu haben. Aber Schul-bashing soll hier gar nicht das Thema sein.

    Ein Blick in die aktuellen Nachrichten zeigt, dass diese Grundlagen noch nicht ausreichend verbeitet sind. Dies gipfelt in dem Stichwort „alternative Fakten“.

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