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Abiturrede 2023

von Martin Sina, Schulleiter am Abtei-Gymnasium Brauweiler, Pulheim

ABIcouture – Abgang mit Stil

Ein spannendes Motto.

ABIcouture.

Ist das Abi Haute Couture?
Ist die eigene Leistung dies?
Kann man das Abi auf dem Laufsteg tragen?
Oder führt es einen dorthin?
Wie sieht dieser Laufsteg des Lebens aus?

Ein Haute-Couture-Kleid ist ein Einzelstück – Das Abiturzeugnis ist zwar weitgehend frei von Extravaganzen, ist aber kein Stück von der Stange. Jedes Zeugnis so individuell wie ihr, eine ganz eigene Leistung: Check!

Ein Haute-Couture-Kleid wird von den besten Scheiderinnen und Schneidern in Manufakturen, also in Handarbeit hergestellt. Diese müssen mindestens 20 Vollzeitangestellte haben und in Paris liegen.

Wir sind zwar nicht in Paris, aber haben da immerhin ne Partnerschule. Und Honorine Tomberg! Wie eine Schülerin eures Jahrgangs mir vor kurzem sagte: „Frau Tomberg unterrichtet nicht Französisch, Frau Tomberg ist Frankreich!“

20 Vollzeitangestellte? Lachhaft!

Beste Schneiderinnen und Schneider: Das müssten wir und eure Eltern sein. Läuft – oder?

Ein Haute-Couture-Kleid kostet heute bis zu 100.000 € – ganz schön teuer. Aber das ist so ungefähr die Summe, die eure Eltern bisher in euch investiert haben! Zeit, mal Danke zu sagen, ein fetter Applaus für die Eltern!

Ein Haute-Couture-Kleid wird in der Regel nicht getragen, sondern landet in Sammlungen und Museen, ist ein Kunstwerk und wird auch so behandelt.

Auch wenn ihr Kunstwerke seid, so seid ihr doch zu etwas zu gebrauchen, insofern eher Pret-a-Porter als Haute Couture.

Ein Haute-Couture-Kleid ist ein Meisterwerk, fehlerlos, perfekt, so perfekt, dass es tatsächlich eigentlich nicht zu gebrauchen ist, sondern nur als Werbeträger für andere Waren des jeweiligen Konzerns taugt: Es zeigt, was möglich ist. Ein bisschen, wie der Federbusch eines männlichen Pfaus: schön, aber super unpraktisch.

Ist euer Abitur fehlerlos, seid ihr fehlerlos? – Sicher nicht. Aber das ist auch gut so! Ihr könnt, ganz individuell, stolz sein auf das Erreichte. Ihr habt nicht immer das objektiv Beste gegeben, sicher nicht.  Manchmal habt ihr auch einfach geschlampt, gefaulenzt, dummes Zeug gemacht. Aber ihr habt Entscheidungen getroffen. Das kann auch die Entscheidung sein, jetzt und hier zu faulenzen, schlampig, also imperfekt zu sein oder sich mit Blödsinn, mit sinnlosen Dingen zu beschäftigen. – Aber dann hinterher nicht heulen!

Denn: Macht das nicht auch einen Großteil des Menschseins aus? Die Fähigkeit, zu spielen, zu träumen, unproduktiv zu sein? In diesen Freiräumen des Lebens können auch kreative Prozesse angestoßen werden, die unsere Welt bereichern. Stetes Streben setzt mich so unter Druck, dass irgendwann der Burnout droht.

Ein gewichtiger Unterschied zum Haute-Couture-Kleid ist aber sicherlich, dass sich der Wert des Abiturzeugnisses nur scheinbar im berühmten Abi-Schnitt verbirgt. Tatsächlich kann ein 3,0er Abis wesentlich mehr bedeuten als ein 1,5er Schnitt. Auch diejenigen, die die Schule mit dem Erreichen der Fachhochschulreife verlassen und scheinbar gescheitert sind, haben großartige Leistungen erbracht, die sich nur individuell und biografisch verstehen lassen. Einen echten Wert dieser Leistung kann man gar nicht ermitteln. Beim Verkündigen von Noten wird mir immer wieder bewusst, wie subjektiv Leistungen sind. Und damit meine ich nicht, dass Noten prinzipiell nie ganz objektiv sein können, sondern, dass eine Note in einem Fach für unterschiedliche Menschen ganz unterschiedliche Bedeutungen hat.
Erwartungen werden enttäuscht, bestätigt oder übertroffen.
Ich weiß beim Mitteilen z.B. der Note „gut“ vorher nicht, ob mich ein Jubelschrei oder tiefe Enttäuschung erwartet. Insofern wisst auch nur ihr selbst, ob dieses Zeugnis, so wie es ist, euren eigenen Ansprüchen genügt. Ob ihr das rausgeholt habt, was ihr rausholen konntet.

Aber auch das ist viel zu kurz gegriffen, zu einfach gedacht: wir kommen mit einem schlichten Leistungs- und Selbstoptimierungsgedanken nicht weiter. Es geht eben nicht immer um höher – schneller – weiter. Es geht um viel mehr: um Haltung, letztlich um Stil! Dazu gleich mehr.

Was ich ganz wichtig finde: Ihr habt es in der Hand, wieviel ihr gebt. Ihr könnt an die Grenzen eurer eigenen Leistungsfähigkeit gehen, dies dadurch erweitern. Es ist im Leben Vieles vor allem Fleiß und Anstrengung.

In der Schule haben wir, trotz aller Wahlmöglichkeiten und individuellen Förderangeboten euch doch weitgehend vorgegeben, was, wann und wie ihr lernen solltet.

Ich wünsche euch, dass ihr das findet, wo ihr euch so wiederfindet, dass das Erbringen von Leistung zum ureigenen Bedürfnis wird.
Wir Pädagogen nennen das „intrinsische Motivation“, andere sprechen von „Flow, von einem beglückenden Erleben, das einen zu Höchstleistungen auch über lange Zeiträume befähigt.

Und auf einmal stellen sich Fragen nach Work-Life-Balance nicht mehr. Denn so, wie es keine „Umwelt“, sondern nur eine „Welt“ gibt, kein „die da“ und ein „wir hier“, genauso sollte es auch kein „Arbeit gleich schlecht“ und Leben gleich der gute Rest“ geben. Sondern die Arbeit ist Bestandteil des Lebens, sie gehört zum Leben.
Ich glaube, dass ihr das in der Schule gut gelernt habt: Lehrkräfte, für die die Arbeit in der Schule und mit euch nicht Job, sondern Beruf im Sinne von Berufung ist, werden euch das hoffentlich durch ihr lebendiges Beispiel vermittelt haben.

Und: Achtet die Sorgearbeit nicht gering! Auch das ist sehr anstrengend und nicht immer beglückend. Das Kümmern um Eltern, Kinder, Haushalt und im Ehrenamt. Aber letztlich das, was unser Leben, unsere Gesellschaft zusammenhält.

Aber euer Motto hat ja noch einen zweiten Teil.

ABIcouture – Abgang mit Stil

Was ist das, Stil?

„Stil“ kommt vom lateinischen „stilus“ (Stängel, Schreibgerät, Griffel). In der Ursprungsbedeutung bezeichnet der Stil einen Schreibstil, also die Art und Weise, wie, mit welchem Griffel jemand schreibt. Aus der Verwendung eines Werkzeugs wurde dann die typische Handschrift, später die literarische Handschrift. Daraus werden dann in Literatur, Kunst, Musik unterschiedliche Epochen.

Insofern wäre der Stil, mit dem ihr uns nun zu verlassen gedenkt, ein zeitgebundenes Phänomen.

Was ist der Stil unserer Zeit, eurer Zeit?

Was ist an euch und eurem Jahrgang in dieser Zeit besonders?

Ihr seid durch die Pandemie gegangen, habt in der Oberstufe lange Phasen des Homeschoolings mitgemacht, es gab einen riesigen Digitalisierungsschub, der von einigen eurer Mitschüler maßgeblich angestoßen wurde. Ich erinnere mich gut, wie Leander, Tamara und Rosalie in der achten Klasse bei mir im Büro saßen und Leander ein langes Papier vorbereitet hatte – nein, das war gar kein Papier, es wir auf dem iPad gespeichert: Pro-Contra Verwendung von iPads im Unterricht. Eine erschlagende Zahl von Argumenten für die Verwendung von iPads gab und die wenigen Gegenargumente rhetorisch geschickt direkt entkräftet. Wir haben das dann ausprobiert und in der damaligen Klasse 8C waren die ersten Schüler:innen in der Sek. I mit dem iPad als Heft und teilweise auch als Buchersatz unterwegs. Zunächst exotisch, dann kam Corona und auf einmal verwendeten immer mehr von euch diese Geräte. Noch befinden wir uns in einer Erprobungsphase, aber ihr wart ganz vorne dabei. Ich bin gespannt, wie wir das in 10 oder 25 Jahre bewerten werden.

Ein weiterer neuer Stil, eine neue Melodie, eine Art, sich in der Welt zu bewegen, ist die zunehmend selbstverständliche Verwendung der Sprechweise Schüler:innen. Das Bewusstsein für Vielfalt hat in den letzten 2-3 Jahren zugenommen. Und Vielfalt ist ein weit gefasster Begriff, er meint Gender, Geschlecht, Colour, Religion und einiges mehr. Letztlich das Anerkennen, dass jeder Mensch ein Individuum ist und Zuschreibungen von Eigenschaften und unterschiedliche Behandlung aufgrund äußerer Merkmale immer falsch ist. Wie viele Gespräche haben wir gehabt, vor allem mit dir, Charlotte, habe ich viele Stunden diskutiert. Auch im Zusammenhang mit der neuen Schulordnung, die einige von euch maßgeblich mitformuliert haben – Danke!

Es wird zunehmend selbstverständlicher, Vielfalt nicht so sehr als das Fremde und Bedrohliche, sondern als Bereicherung zu sehen. Ob man dies auch so empfindet, ist vermutlich aber viel entscheidender – aber das kann ich nicht beantworten. Das müsst ihr selbst herausfinden.

Ich möchte euch aber ermutigen, gut in euch hineinzuhören und Dissonanzen zwischen Hirn und Herz und Bauch zu erkennen, zu hinterfragen und daraus Entwicklungspotentiale zu schöpfen und zu nutzen.
Ihr werdet offene Ohren, Augen und Herzen benötigen, um euren eigenen Stil zu finden, euren eigenen Weg zu gehen. Wir konnten euch das nicht beibringen, aber wir haben gemeinsam mit euren Eltern und Familien versucht, euhc das Rüstzeug mit zugeben, damit ihr euren eigenen Ausdruck finden könnt.

Euer Selbstfindungsprozess, das Erwachsen-Werden, ist heute wie zu allen Zeiten für jede und jeden von euch spektakulär und individuell ganz besonders. Das kennen wir alten, eure Lehrer und Eltern von früher.
Aber: Traditionen brechen weg, z.B. geben Kirche und Gemeinde nicht mehr den Halt, den frühere Generationen dort fanden, Vereine haben nicht mehr den Stellenwert, alte Traditionen werden hinterfragt und als nicht mehr zeitgemäß beiseitegelegt. So habe ich in diesem Jahr in der tiefsten Eifel am 30. April weibliche Wesen in der Mainacht aktiv unterwegs mit Maibäumen gesehen. Das hätte es früher nicht gegeben! 

Der Alltag verändert sich in einer Geschwindigkeit, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist. Ihr habet weniger tradierte Orientierung, dafür viele Möglichkeiten. Die Welt steht euch offen, dass bedeutet das Zeugnis, welches ihr heute erhaltet.
Andererseits ist die Welt in ungekanntem Maß bedroht, an erster Stelle durch den Klimawandel und das Artensterben. Verursacht durch einen Lebensstil, der auf Wachstum und Konsum ausgerichtet ist und der auf der Ausbeutung der Erde und großer Teile der Menschheit zugunsten des Nordens und Westens beruht. Dies ist uns allen heute und hier schmerzlich bewusst. Auch die prägenden Erlebnisse von Pandemie und Krieg in Europa, die Bedrohung der Demokratie in vielen Teilen der Welt, zeigen die Fragilität unseres Planeten im Anthropozän, im durch den Menschen geprägten Zeitalter des Planeten.

In dieser Situation mit Stil die Schule zu verlassen ist nicht einfach!

Ob euer Abgang an dieser Schule durchgängig stilvoll war, darüber gibt es ja differierende Ansichten. Leider kann ein einziger Fauxpas ganz viel, was man richtig gemacht hat, zerstören. Gestern hat Vincent Moissonier, der bekannte Sterne-Koch aus Köln, im Kölner Stadt-Anzeiger Magazin sein neues Buch über stilvollen Umgang im Restaurant in einem lesenswerten Interview vorgestellt.
Stilvollen Umgang kann man lernen. Er empfiehlt, zu sprechen, zu fragen, sich beraten zu lassen. Und sagt: „Der einzige Fehler, der nicht wieder gut zu machen ist, ist Respektlosigkeit.“

Stil kann nicht einfach bedeuten, dass man mit geschliffenen Manieren und einer ganz bestimmten Kleidung, gewählten Worten und aufrechter Körperhaltung geht.

Aber vielleicht ist die aufrechte Haltung der anzustrebende Stil? Eine innere aufrechte Haltung, ein Kompass, der euch zum rechten Handeln führt.

Empathie, Mitleid, Mitmenschlichkeit, Verantwortungsübernahme.

Die Freude am Leben, gemeinsames Lachen und Weinen, das Tragen von Krankheit und Tod, die Freude über Gelungenes und neues Leben. All das gilt es zu erleben und zu feiern.

Dazu sind wir heute hier zusammengekommen:

Wir feiern das Leben und die Zukunft.

Wir feiern euch, die wir die Freude und Ehre hatten, ein Stück auf dem Lebensweg zu begleiten und ein bisschen zu prägen.

Wir Lehrkräfte danken euch für euer Vertrauen, eure unbändige Lust am Leben, euer Austesten von Grenzen, eure Diskussionsfreudigkeit, eire Ernsthaftigkeit, euren Humor, euren Widerspruch, eure Emotionen, eure Zuneigung.

Ich wünsche euch,
dass ihr euer Leben in die Hand nehmt,
erkennt, was ihr wollt und was getan werden muss,
alle Entscheidungen, die ihr trefft, mit einem großen Herzen und einem weiten Blick trefft.
Dass ihr den Planeten bewahren helft und in euren Kreisen zu einem besseren Ort macht.
Ich wünsche euch alles Glück und alle Freude, dies es gibt.

Feiert heute euch und euer Leben.

Und dann geht es los: Die Welt steht euch nicht nur offen, die Welt wartet sehnsüchtig auf euch!

Prägt sie stilvoll.

Download als pdf: https://die-sinis.de/wp-content/uploads/2023/06/Abiturrede-2023.pdf

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