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Warum wir gute Vorfahren werden müssen

Abiturrede(n) 2024

Ich hatte dieses Jahr die Aufgabe und das Vergnügen, an zwei Gymnasien für die Durchführung des Abiturs und damit auch die Zeugnisvergabe verantwortlich zu sein. Darum hatte ich die einmalige Möglichkeit, meine Abiturrede zweimal zu halten. Natürlich musste sie auf das Motto der anderen Schule „ABIkini – knapp, aber passt schon“ angepasst werden, aber die Essenz ist natürlich unabhängig vom jeweiligen Motto.

Unter dem Text können beide Fassungen bald auch als pdf runtergeladen werden, hier die „Original-Version“.

TherABI – Raus aus der Anstalt

Wir haben euch hier in dieser Anstalt 12 Jahre, manche etwas kürzer, andere länger, behandelt. Nun seid ihr austherapiert und werdet in die Welt entlassen.

Welche Therapie kann Schule leisten? Unser Gesundheitssystem krankt an permanenter Unterbesetzung, zu kleinen Krankenzimmern mit viel zu vielen Patienten. Manche sind nicht kooperativ und sabotieren die Therapie. Andere hingegen holen sich überall erlaubte oder auch unerlaubte Medikationen, um im Abschlussbericht möglichst gut dazustehen.

Unsere Therapie ist Bildung und Erziehung.

Ihr, die Abiturient:innen, seid der Nachweis, ob diese erfolgreich war.
Können wir diesen Therapieerfolg erfassen, können wir ihn messen?

Auf den ersten Blick natürlich – aber… und jetzt müsst ihr stark sein: Ich glaube nicht, dass eine Durchschnittsnote auf dem Abiturzeugnis darüber viel aussagt!

Wann war schulische Bildung und Erziehung erfolgreich?

Wenn ihr hier, bei uns, die Basis für eine glückliche, sorgenarme Zukunft, für einen guten Job, Familie, Kinder, Eigenheim gelegt und erhalten habt?

Auch das ist, glaube ich, zu kurz gedacht. „Zu kurz“ durchaus in zeitlicher Bedeutung: Ihr, wir, stehen in einer langen Reihe von Menschen. Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen. Diese Riesen sind zunächst mal die, die euch heute hier begleiten: Die Lehrer und die Eltern.

Aber auch die stehen auf den Schultern z.B. von euren Großeltern, von denen sicher auch einige hier sind.

Und so weiter.

Wir können den Blick immer weiter zurückwenden.
Wir können mit mittelbarer Erinnerung weit zurücksehen.
Meine eigene Großmutter ist 1904 geboren, ich habe noch die Urgroßmutter gekannt, die ca. 1880, also vor fast 150 Jahren geboren ist. Meine Enkelkinder sind jetzt zwischen 0 und 5 Jahren alt, sie werden voraussichtlich das Jahr 2120 erleben. Das ist bereits ein Zeitraum von 240 Jahren – oder 7 Generationen.

Das ist der Blickwinkel, den wir Menschen in unserem Leben überblicken können. Da schrumpfen die Bedeutung von einem Abitur, von einer Schulzeit, von dem Besitz eines Autos oder selbst des Eigenheims schon ganz schön zusammen.

Der australische Soziologe Roman Krznaric hat in seinem faszinierenden Buch „Der gute Vorfahr. Langfristiges Denken in einer kurzlebigen Welt“ von 2020 entfaltet, dass wahre Reife, das Ergebnis wahrer Bildung und Erziehung, das echte Abitur bedeuten muss, dass ihr gute Vorfahren werdet.

Gute Vorfahren?

Ja: Eine uralte Philosophie der Irokesen, das „Seventh-Generation-Principle“ besagt, dass man bei jeder Handlung bedenken soll, was diese für die siebte Generation in der Zukunft bedeutet. 7 Generationen – also 250 Jahre. Das ist der Zeitraum, der so weit reicht, dass meine Urenkel bis dort blicken können. Ein Zeitraum, der mein Vorstellungvermögen schon übersteigt.

Krznaric verwendet das Bild des Marshmallow- und des Eichel-Gehirns.

Das Marshmallow-Gehirn steht für die schnelle, sofortige Bedürfnisbefriedigung.

Das kennen wir alle nur allzu gut: Wer hat in dieser Sekunde sein Handy in der Hand? Warum? Was gibt es da Wichtiges? Und wer hat, nachdem ich das jetzt erwähnt habe, das Bedürfnis, seine Benachrichtigungen zu checken?[1]

Ok, 20 Sekunden-Pause, um mal auf den Bildschirm zu gucken!

Unsere Welt ist ganz oft eine Marshmallow-Welt: Ein Extrembeispiel sind die Geschwindigkeiten, mit denen an Börsen Wechselkursschwankungen genutzt werden, das High-Speed-Trading.

Die Politik ist geprägt durch eine Fokussierung auf Wahlperioden. Ein Jahr Zusammenfinden, zwei Jahre Entscheidungen treffen, ein weiteres Jahr auf die nächste Wahl schielen: So sind Entscheidungen, die erst in 10 Jahren oder mehreren Jahrzehnten einen Benefit bringen, kaum durchzusetzen. Das Hier und Jetzt, die aktuelle, schnelle Bedürfnisbefriedigung wird zur Entscheidungsgrundlage.

Das angebotene Marshmallow wird gegessen.

Wir Menschen haben zum Glück nicht nur ein Marshmallow- sondern auch ein Eichelgehirn. Eine Eiche braucht 100, eher 200 Jahre, um zu wachsen. Sie wird regelmäßig über 500 Jahre alt. Wer einen Eichenwald pflanzt, wird diesen selbst niemals ernten und nutzen können. Es ist ein Invest in die Zukunft.

Wir sind zu langfristigen Projekten im Stande. Ein prominentes Beispiel in unserer Nachbarschaft ist der Kölner Dom: Der Grundstein wurde 1248 gelegt, bis zur Fertigstellung dauerte es zunächst 280 Jahre, dann gab es eine Baupause und die Fertigstellung mit beiden Türmen erfolgte nach weiteren 38 Jahren Bauzeit 1880. Also über 600 Jahre nach Baubeginn bei einer Gesamtbauzeit von über 300 Jahren. 300 Jahre, das sind ca. 10 Generationen. Der Kathedralenbau ist der Beweis dafür, dass Menschen Großes schaffen können, von dem sie nur einen Plan, eine Vision haben in dem Bewusstsein, es selbst niemals zu sehen.

Warum sind diese Gedanken heute, an diesem Tag, so wichtig? Was haben sie mit uns allen, aber insbesondere mit euch, den Abiturienten zu tun?

Wir leben in einer Welt, die sich in den letzten 100 Jahren schneller verändert hat als jemals zuvor. Die Bevölkerungszahl der Welt hat sich in den letzten 200 Jahren von 1 Mrd. über 2,7 Mrd. 1950 auf heute über 8 Mrd. Menschen erhöht. Wir haben den Planeten so geprägt und überformt, dass man heute von deinem neuen Zeitalter, dem Anthropozän, dem Zeitalter, in dem der Mensch die Erde entscheidend formt und gestaltet, spricht.

Dieser technische und medizinische Fortschritt ist sicherlich an vielen Stellen ganz großartig, birgt aber auch große Gefahren. Nicht so extrem für meine Generation. Aber schon sehr für eure Generation und ganz gewiss für die Generation eurer Kinder, Enkel und Urenkel.

Kurzsichtiges Handeln, das Marshmallow-Gehirn, hat dafür gesorgt, dass wir die Ressourcen der Erde in einer Geschwindigkeit ausplündern, die für folgende Generationen eine schwere Hypothek ist oder sogar das Leben auf der Erde für unsere Spezies unmöglich machen wird. Wir leben buchstäblich, als hätten wir eine zweite Welt im Kofferraum: der Earth-Overshoot-Day sagt uns, an welchem Tag des Jahres wir die nachhaltig nutzbaren Ressourcen für das Jahr verbraucht haben und Schulden an der Zukunft machen. In Deutschland ist dies seit Jahren einer der ersten Mai-Tage![2] Wir müssen dahin kommen, dass der 31.12. wieder der Earth-Overshoot-Day wird, dahin ist es ein weiter Weg.

Wie konnte es so weit kommen?

Ein Grund neben unserer Tendenz, das Marshmallow sofort zu essen: In unserer Demokratie haben nur Menschen ab 18 bzw. 16 Jahren ein Stimmrecht. Durch die wachsende Gruppe der Alten wird deren Sichtweise überproportional abgebildet. Das ist ungerecht.

Aber viel ungerechter und gar nicht im Blick ist, dass die Sichtweise der Milliarden Menschen, die noch kommen werden, die noch ungeboren sind, nicht repräsentiert wird. Sie sind stumm. Niemand guckt auf die Mehrheit der Menschheit, die noch nicht geboren, nicht gedacht ist. Je weiter weg, desto weniger gewichten wir deren Interessen.

Es ist ein radikales Umdenken hin zu einer nachhaltigen, generationengerechten Weltwirtschaft erforderlich.

Und hier hoffe ich, dass wir euch all das mitgegeben haben, was ihr braucht, um an einer gerechten Zukunft auch für eure Nachfahren zu bauen.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth hat vor wenigen Jahren, 2012, ein Modell veröffentlicht, welches einen Weg hierhin weist. Diese Theorie wird derzeit im Wirtschaftsraum Amsterdam bereits als Prinzip für die Weiterentwicklung genutzt, weitere Räume und Orte planen derzeit die Einführung, auch in Deutschland.

Die Grundidee ist so einfach wie bestechend: Raworth nimmt planetare und soziale Grenzen in den Blick. Die planetaren Grenzen dürfen nicht überschritten, die sozialen Grenzen nicht unterschritten werden, damit die Menschheit eine nachhaltige Zukunft hat.

Die sozialen Grenzen, die für alle Menschen auf der Welt als Mindeststandard erreicht sein sollten, sind z.B. Dinge wie die Verfügbarkeit von genug Energie, Wasser, die Gleichheit der Geschlechter, Frieden und Gerechtigkeit, Bildung, Arbeit und einige mehr. In unserem Land sind wir bei diesen Dingen recht weit, weltweit gibt es noch großen Optimierungsbedarf.

Die planetaren Grenzen, die das Leben auf der Erde in einem gesunden Status quo erhalten können, sind: Die Verhinderung oder mindestens Eingrenzung von Klimawandel, Versauerung der Ozeane, Chemische Verschmutzung, Zerstörung der Ozonschicht, Luftverschmutzung, Verlust an Biodiversität und weitere.

Diese Grenzen werden von der Welt insgesamt, insbesondere aber von den führenden Industrienationen permanent und konsequent durchbrochen!

Das ist ein ziemliches Horrorszenario und so einer Abiturrede, die Optimismus und Zukunft verströmen soll, unwürdig.

Aber: Mut macht, dass es gelungen ist, eine der Grenzen wieder beinahe in Ordnung zu bringen! Die Zerstörung der Ozonschicht ist durch ein langfristiges und konsequentes Handeln auf dem besten Wege, rückgängig gemacht zu werden. In den 1980er Jahren hat man Maßnahmen ergriffen, von denen man damals wusste, dass sie erst nach 35-40 Jahren beginnen, zu wirken. Sie haben gewirkt. Derzeit geht man davon aus, dass in 50-100 Jahren die Ozonschicht vollständig regeneriert sein wird.[3]

Ebenfalls wurde im Bereich Luftverschmutzung zumindest in vielen Industriestaaten sehr viel bewirkt. Weltweit reißen wir natürlich die Latte immer noch massiv.

Dies sind Beispiele dafür, dass mutiges und entschiedenes Eintreten für heute lästige oder auch kostspielige Lösungen langfristig zu einer Sicherung der Grundlagen und einer Verbesserung der Lebensqualität führt.

Und das soll ich jetzt alles stemmen?
Das ist doch die totale Überforderung!
Da kann man nur depressiv werden, oder?

Nein, die Frage heißt ja nicht: „Wie kann ich etwas bewirken?“

Die entscheidende Frage lautet vielmehr: „Wie können wir etwas bewirken?“

Es geht nicht um persönliche Einzelmaßnahmen, sondern um gemeinsame Strategien. Die Therapie ist keine Einzeltherapie gewesen, sondern eine Gruppentherapie. Eine, die das Individuum, dich, befähigt, in der Gesellschaft zu wirken.

„Einzelne Lebensstil-Entscheidungen bewirken insgesamt kaum etwas, wenn sie nicht in die Politik eingehen.“ (David Wallace-Wells)

Darum möchte ich euch zurufen:

Seid mutig und laut,
macht euch bemerkbar,
engagiert euch in der Gesellschaft, in Politik Kirche, Vereinen, Bürgerinitiativen. Sucht euch Verbündete.

Die Welt wird nicht durch Institutionen verändert, Revolutionen, Umwälzungen kommen von unten, von den Vielen, die 1989 auf die Straße gegangen sind, von den Suffragetten, die vor über 100 Jahren für das Frauenwahlrecht kämpften, durch all die friedlichen, aber hartnäckigen Proteste, die Wahlrecht, Gleichberechtigung der Hautfarben und Geschlechter, Freiheit, Verfassungen und vieles mehr erreichten. Es lassen sich so nicht nur die sozialen Grenzen einhalten, jetzt ist die Zeit, sich um die plantaren Grenzen zu kümmern.

Wir und ihr seid aufgefordert, gute Vorfahren zu sein.

Ihr seid das nächste Glied in der Kette.

Verliebt euch in die Welt, in einen Ort, einen Baum – vielleicht ist der Wille, diesen zu bewahren ein erster Antrieb, euch mit der fernen Zukunft zu beschäftigen.

Jeder Nachfahr ist genauso viel wert wie jeder von uns heute. Wir haben nicht das Recht, ihnen die Lebensgrundlage zu entziehen.

Ich hoffe, dass wir euch das Wissen, die Empathie, die Nachsicht, das Fürsorgebedürfnis mitgeben konnten, das nötig ist, mutig in die Welt zu schreiten und dort der Versuchung nach dem kurzen Kick zu widerstehen. Den Blick in die Weite zu wenden und die echte, gute Zukunft zu gestalten.

Nutzt und mehrt euer Wissen.

Denkt an eure Vorfahren, an die, die euch zu dem gemacht haben, was ihr heute, jetzt, hier, an dieser Feierstunde seid.

Und handelt dementsprechend für eure Nachfahren, dass diese einst mit stolz und Dankbarkeit auf euch zurückblicken können.

Dass eure Nachfahren in 7 Generationen sagen werden:

Danke, dass du gelebt hast.

Danke, dass du mir meine Leben ermöglichst.

Danke, dass du mir eine Welt hinterlassen hast, in der ich leben kann und möchte.

Und danke, dass eure Generation, dass du, den Schritt geschafft hast,
aus der Erkenntnis, dem Wissen,
hoffentlich auch dem, was ihr in dieser Anstalt erfahren, verabreicht und gelernt hast,
nachhaltige, langfristige Entscheidungen abgeleitet hast.
Das du dies gegen alle Widerstände und den Impuls, auf den kurzfristigen Erfolg zu schielen, durchgehalten hast.

Danke.

Danke, dass es dich gibt.

Danke, dass du dein Leben heute mit uns teilst.

Verwendete Literatur

Roman Krznaric, Der gute Vorfahr. Langfristiges Denken in einer kurzlebigen Welt. DuMont, Köln 2024.

Kate Raworth, Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planten nicht zerstört. Carl Hanser Verlag, München 2018.


[1] Tatsächlich hat bei beiden Abiturfeiern, bei denen ich diese Rede gehalten habe, an dieser Stelle niemand auf sein Handy geschaut. Vielleicht ein Ausweis, dass es bis hier hin spannend war?

[2] https://www.welthungerhilfe.de/informieren/themen/klimawandel/earth-overshoot-day-welthungerhilfe

[3] https://www.nationalgeographic.de/umwelt/2021/09/klimaschutz-wie-steht-es-um-das-ozonloch

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