Letzten Freitag wurde unsere Abiturientia entlassen. Sehr froh und stolz haben wir 146 jungen Menschen ihr Reifezeugnis überreicht.
Dazu gehört es natürlich auch, dass der Schulleiter den jungen Menschen etwas mit auf den Weg gibt, die letzte Chance in dieser Funktion, weil sie Minuten später aus der Schule entlassen sind. Diese Chance nutze ich jedes Jahr gerne und fange früh an, mich mit ersten Gedanken für den Abiturjahrgang auseinanderzusetzen.
Dieses Jahr war hatte ich mir sehr früh vorgenommen, eine Rede ganz ohne C. zu schreiben – das habe ich geschafft. Da die Rede nach Bekundung von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Kolleginnen und Kollegen gelungen war wurde ich gebeten, diese zugänglich zu machen. Dies tue ich gerne, insbesondere handelt es sich hier um die Fortsetzung des Blog-Beitrags von April, in dem ich diese Rede in Grundzügen im Kopf hatte und versprach, dass der Beitrag im Mai fortgesetzt würde. Nun also mit leichter Verspätung im Juni, dafür aber ziemlich ausführlich, so dass ich den Text als PDF zum Download anbiete.
Ich habe den Text der Rede nicht verändert, man möge sich diesen Text bitte vorgetragen vorstellen und nicht als Artikel. Es wurden lediglich auf der ersten Seite die Namen der Schülerinnen und Schüler entfernt.
Liebe Eltern,
sehr geehrte Vertreter von Rat und Verwaltung,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Trotz der schwierigen Situation habt ihr herausragende Leistungen erbracht:
Mehr als 1/3 der erfolgreichen Abiturientinnen und Abiturienten hat eine Eins vor dem Komma, der Gesamtschnitt der Abiturientia liegt dieses Jahr bei 2,3.
Ihr seid ein guter, nein, ein sehr guter, ein hervorragender Jahrgang.
Wir haben in diesem Jahr 6 Schülerinnen und Schüler mit der Note 1,0. Besonders hervorheben muss und möchte ich unsere beste Abiturientin, sie hat diese Leistung nicht im G8 sondern einem G7-Bildungsgang erreicht!
Wir sind froh und stolz, eure Lehrerinnen und Lehrer gewesen zu sein! vor allem aber: heute feiern wir euch.
Ich gratuliere euch allen ganz herzlich zum bestandenen Abitur!
Wir sind so stolz auf euch, und ihr könnt stolz auf euch sein.
Meine Aufgabe hier ist es, eine Festrede zu halten. Eine Festrede, die euch vielleicht etwas für euer Leben mitgeben kann.
In einer Abiturrede kann ich nur einige Gedanken anreißen, ich möchte euch mit dieser Rede Mut machen,
eure Zukunft in die Hände zu nehmen und euch gleichzeitig auch den Mut und das Vertrauen zusprechen,
dass ihr das könnt!
Dazu ein Rückblick auf unsere gemeinsame Zeit:
Was haben wir hier gemeinsam geleistet?
Die Bildungsinhalte sind das Offensichtliche, vielleicht am sichtbarsten in den erworbenen Fähigkeiten, sich in fremden Sprachen auszudrücken.
Fähigkeiten – darum geht es eigentlich.
Wir sprechen im schulischen Bereich eher von Kompetenzen.
Ein gerne polemisch diskreditierter Begriff. „Weg von der Kompetenzorientierung, zurück zum guten alten Lehrplan, der uns sagt, was gelernt werden soll“ – so lautet eine immer wieder vorgetragene Forderung, die von bestimmten Akteuren im Bildungswesen vorgetragen wird.
Was ist das, eine Kompetenz?
Und ist nicht ein Bildungsinhalt viel wichtiger?
Eure Groß- und Urgroßeltern, vielleicht auch noch die Eltern haben vornehmlich Inhalte gelernt. Faust, Gedichte, Shakespeare, vielleicht sogar manche physikalischen Formeln. Sicher alles nicht verkehrt.
Ist das der Schlüssel zum erfüllten Leben, zur Welt, zu einer guten Zukunft?
Wenn es gut gelaufen ist, dann haben sie viel mehr als Inhalte gelernt:
Sie haben gelernt, Wissen verfügbar zu haben.
Sie haben gelernt, ihr Wissen im richtigen Moment abzurufen und einzusetzen.
Und ihr, heute, in dieser Situation, in dieser Zeit?
In den letzten zwei Jahren haben wir die Bedrohtheit menschlichen Lebens als existentielle Verfasstheit erfahren.
Die beiden großen Krisen der Gegenwart lassen uns dies mehr oder weniger im Alltäglichen wie im Gesamten erleben.
Sind wir gewappnet, seid ihr von uns gut vorbereitet auf das, was jetzt auf euch wartet?
Was ist Voraussetzung zum Bestehen in der Welt?
Der 1903 in Mönchengladbach geborene deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas hat in seinem gleichnamigen Buch bereits 1979 das „Prinzip Verantwortung“ vorgestellt. Ein Schlüsselbegriff, vielleicht eine Schlüsselphilosophie für unser aller Zukunft.
Hans Jonas formulierte in Anlehnung an Kant seinen ökologischen Imperativ
„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
Jonas richtet sich hier klar gegen eine indivualistische Ethik, dir auf Optimierung des eigenen Glücks durch das richtige Verhalten im engeren Umfeld bestimmt ist. Er wendet bereits vor über 40 Jahren klar den Blick auf die Welt, er nimmt eine globale Sicht auf das Individuum und die Begründungen seines Handelns ein.
Es lohnt sich, mit diesem Blickwinkel die letzten Jahre Revue passieren zu lassen: haben wir die Grundlagen hierfür gelegt? Haben wir euch vorbereitet, habt ihr euch vorbereiten lassen?
Es wird sofort klar: die Inhalte, Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaft, philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Basiskenntnisse können nur ein Fundament sein.
„Nur“ gemeint in dem Sinne, dass das ganze Haus ohne ein stabiles Fundament nicht hält!
„Nur“ in dem Sinne, dass auch im Zeitalter der digitalen Allverfügbarkeit von Wissen in diesem Überangebot Orientierung nur möglich ist, wenn ein solides Fundamentum vorhanden ist.
Was also sind die Mauern, die das Dach tragen können?
Die Philosophin Martha Nussbaum hat hierzu einen „Befähigungsansatz“ entwickelt.
Sie entwickelt eine Theorie des guten Lebens auf der Welt. Stark vereinfacht kann man sagen, dass jeder Mensch über Anlagen, Begabungen, sogenannte interne Fähigkeiten verfügt. Zum Zweiten gibt es Rahmenbedingungen, diese Begabungen zu entwickeln und auszuleben.
Es ist also denkbar, dass man nicht über bestimmte Fähigkeiten verfügt, obwohl es grundsätzlich die Möglichkeit gäbe, diese auszuleben. Ich könnte z.B. kein Fußball-Profi sein, da es mir an individuellen Grundfähigkeiten fehlt, obwohl unsere Gesellschaft vielfältige Möglichkeiten zum Verdienen des Lebensunterhaltes durch Fußball bietet.
Andersherum ist es auch vorstellbar, dass man in einer Gesellschaft lebt, in der man trotz individueller Begabungen und Fähigkeiten diese nicht ausleben und entwickeln kann, z.B. weil man wegen seines Geschlechts keinen Zugang zu bestimmten Ressourcen hat oder in einem Land lebt, in dem es keine echte Demokratische Teilhabe an der Gesellschaft gibt.
Martha Nussbaum spricht hier von kombinierten Fähigkeiten: also den individuellen internen Befähigungen, die aber einen äußeren institutionellen und materiellen Rahmen zur Ausbildung bedürfen.
Glück ist für Nussbaum ein „gehaltvolles Leben“ (a flourishing life).
Schule hat genau diese Aufgabe: einen gut ausgestatteten materiellen und organisatorischen Rahmen zu schaffen, um individuelle interne Fähigkeiten zur Ausbildung zu verhelfen.
Dies anzunehmen war und ist eure Aufgabe!
Keine Sorge – wer jetzt etwas verbummelt hat kann dies problemlos in den nächsten Jahren aufholen!
Was mir sehr wichtig ist: wir müssen in großen Zeiträumen denken. Es geht nicht um das kurze Glück, den schnellen Kick, dieser schafft keine dauerhafte Befriedigung. Es geht um das langfristig sinnerfüllte Leben. Dies erlebt man durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit: ich kann meine internen Fähigkeiten ausbilden und zum Wohl einsetzen.
Ein zentraler Begriff in allen Gerechtigkeitstheorien ist die Freiheit.
Hierzu auch ein paar Gedanken: geht Jonas wie beschrieben in seinem ökologischen Imperativ über Kants kategorischen hinaus, so bleibt das berühmte Kant-Zitat zur Freiheit doch gültig.
„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“
Erweitert um die Idee des Befähigungsansatzes wird sehr schnell deutlich, dass Freiheit zum Ausleben und Ausformen der individuellen internen Fähigkeiten, was letztlich die Grundvoraussetzung für ein glückliches Leben ist, bestmöglicher Rahmenbedingungen bedarf.
Und hier schließt sich der Kreis: Ein „Weiter So!“ wird sehr schnell und sehr deutlich die materiellen Grundlagen so zerstören, dass auch die individuelle Freiheit beschnitten wird.
Wenn wir mit der Devise „Ich will Spaß, ich geb Gas“ durch das Leben gehen, dann ist diese nur noch einen sehr begrenzten Zeitraum für eine noch begrenztere Zahl von Menschen lebbar.
Es gilt nun, Wege zu finden, die die Permanenz, den Fortbestand echten menschlichen Lebens auf der Erde ermöglichen.
Freiheit ist nur vorhanden, kann nur vorhanden sein, wenn die Rahmenbedingungen vorhanden sind. Sonst gibt es keine Entscheidungsfreiheit mehr!
Ein ganz einfaches Beispiel: „Eine rote Ampel schränkt meine Freiheit ein: Freie Fahrt für freie Bürger!“ Wenn nur ein winziger Prozentsatz der Menschen sich unter Berufung auf individuelle Freiheitsrechte für das Ignorieren der grundlegenden Verkehrsregeln entscheidet ist das totale Chaos programmiert.
Die Beschränkung der persönlichen Freiheit durch rote Ampeln ist ein geringer Preis für die Freiheit der sicheren Mobilität.
„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
Nutze die Freiheit, die du hast, um die Welt zu gestalten!
Mit dieser Grundidee müssen wir nun unsere gesamte Umwelt gestalten: Erhaltung der Lebensbedingungen, um dadurch das Maximum an Freiheit für möglichst viele Menschen erreichen zu können.
He, das soll eine Festrede sein? Hier eine Verzichtspredigt halten?
Nein, ich will euch Mut machen:
Als ich an eurer Stelle stand, mein Abiturzeugnis in den Händen hielt,
- war der Rhein quasi tot, Fische aus dem Rhein waren Sondermüll.
- Die Wälder waren durch den sauren Regen massiv geschädigt.
- Die Luft in den Städten war katastrophal schlecht,
- in vielen Gegenden war das Aufhängen von Wäsche im Freien zum Trockenen nur bei geeigneten Windrichtungen möglich, damit sie nicht vom Ruß schwarz wurde,
- Viele kleine Badeseen waren gesperrt, da sie wegen Überdüngung eutrophiert waren.
- Das Atombombenarsenal der beiden Großmächte reichte aus, um die Welt 20x zu zerstören und der Funke war zumindest gefühlt immer am Pulverfass.
- Das Ozonloch war so groß, dass man im australischen Sommer nicht ohne massiven Sonnenschutz auf die Straße konnte.
All diese und weitere Probleme, die alle menschengemacht waren, haben wir durch Technik, Verzicht, Vernunft in den Griff bekommen!
In Autos wurden Katalysatoren, in Kraftwerken Filter eingebaut, der Einsatz von Phosphaten in Waschmitteln wurde massiv eingeschränkt, man verbot FCKW, die die Ozonschicht zerstören, die Supermächte haben sich auf Rüstungskontrolle und Reduzierung der Waffenarsenale verständigt.
All das haben Menschen möglich gemacht, die ihre Fähigkeiten entwickelt haben, die studiert, gelernt, gearbeitet haben. Menschen, die sich nicht durch Misserfolge und schlechte Rahmenbedingungen haben beirren lassen, die Widerstände überwunden haben.
Sie haben dadurch Bedingungen verbessert, durch verbesserte Bedingungen für alle dazu beigetragen, dass andere Menschen ihre individuellen, internen Fähigkeiten zu Befähigungen weiter entwickeln konnten.
Durch Regeln, Erfindungen, Technik, manchmal Verbote, durch Wissenschaft haben sie die Freiheit erhöht haben!
Das könnt ihr auch!
Habt Mut, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen.
Macht die Welt zu einer besseren Welt, zu eurer Welt, zu einer Welt für alle Menschen.
Erhöht die Möglichkeiten individueller Freiheit, indem ihr für alle die Bedingungen verbessern helft.
Ihr wollt natürlich euer Stück vom Kuchen abhaben. Vielleicht wollt ihr auch eine Kirsche mehr auf dem Kuchen haben, vielleicht auch einen anderen Kuchen. Aber das ist viel zu kurz gegriffen: seid nicht bescheiden! Denkt nicht in Kuchen. Es geht um die ganze Bäckerei!
Ihr habt in den letzten Jahren durch Elternhaus und Schule, vor allem aber eigene Anstrengung und Auseinandersetzung die je individuellen Grundlagen für die Zukunft der Welt gelegt.
Nutzt das Momentum, gestaltet eure und unsere Zukunft.
Wir Alten helfen euch gerne dabei – und lassen uns auch gerne von euch überzeugen.
Ihr seid toll!
verwendete Literatur:
Hans JONAS, „Das Prinzip Verantwortung“. Moralphilosophische Antwort auf die technologische und biomedizinische Macht. In: Ders., Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Ausgewählte Texte. Dietrich Böhler Hg. (Philipp Reclam jun., Stuttgart 2004).
Martha NUSSBAUM, Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität. (Verlag Karl Alber, Freiburg / München 2015).
Hallo Herr Sina, danke für die tolle Rede, bei mir rollten auch ein paar Tränen. Ich sage Ihnen hiermit Danke, dass Sie mich damals ermutigt haben Janik am Gymnasium anzumelden, obwohl die Grundschule es nicht befürwortet hat. Janik hat sein Abi bestanden und wir sind stolz auf ihn und er wird seinen Weg finden. Danke auch an alle Lehrer die ihn begleitet haben und die Familie Knabe wünscht dem ganzen Kollegium sowie den lieben Damen aus dem Sekreteriat schöne und erholsame Sommerferien lg Alice Knabe